Autobahngeräusche, Tanksäulen, der Geruch nach verbranntem Benzin. Das alles ist noch im Kopf, als der rote Wagen schon fast die Stoßstange berührt. Am Rücken wird plötzlich die Struktur des Sitzpolsters spürbar, jeder kleine Hubbel drückt in die Haut, hätte ich etwas mehr Zeit, könnte ich sie anhand des Gefühls genau zählen. Gegen die Fahrtrichtung, einfach verkehrt herum. Jetzt kommt der Stoß, genau jetzt ... – ein kleiner Ruck, wir drehen uns, und es geht wieder mit dem Gesicht nach vorne. Der Wagen rollt aus ins flache Gras des Mittelstreifens. Nur ein paar Kiesel knirschen.
Ich erinnere mich, wie klar die Wahrnehmung im Moment vor dem Aufprall war. Der Körper hing angespannt im Gurt, aber der Kopf war vollkommen ruhig. Die Sinne arbeiteten wie eine Aufzeichnungsmaschine, folgten genau der Bewegung des Wagens. Hielten die staubige Ablage fest, die verdrehten Hände meiner Freundin am Steuer, die vorbeihuschenden Bilder draußen. Es überraschte mich, dass ich eigentlich gar keine Angst empfand, eher war es eine Art neutrales Gefühl (aber doch ein Gefühl), so etwas wie ein Beobachter zu sein, der zugleich mitten im Geschehen sitzt. Eine Wahrnehmungsmembran, die aus den gewohnten Zusammenhängen gelöst ist und doch, vielleicht gerade deshalb, ganz nah bei dem, was sie festhält.
Die Erinnerung an diesen Unfall aus dem Spätsommer 1998 gehört zu den deutlichsten Szenen, die ich mir überhaupt wachrufen kann. Wir waren auf dem Weg in den Urlaub, und die wenigen Tage am Meer sollten mit jeder Kleinigkeit im Gedächtnis haften bleiben. Aber über den Unfall kann ich nicht schreiben. Es gibt etwa ein Dutzend Skizzen und halb fertiger Texte, die sich alle um eine Annäherung bemühen – nur sind sie nicht mehr als Versuche. Ich habe bis heute gar keine Sprache, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem Wahrgenommenen stünde. So klar die Wahrnehmungslinien auch sein mögen, sie haben sich nicht in Wortfolgen und Rhythmen verwandelt, hier ist nichts zum Material geworden.
Warum ist mir diese Erinnerung trotzdem so wichtig, unabhängig von dem existentiellen Glück, dass der Unfall glimpflich ausgegangen ist? Warum kommen mir die Bilder des Unfalls vor allem dann in den Sinn, wenn ich über das Schreiben nachdenke? Ich hatte bis dahin immer nach einem Bild gesucht für das, was mir während des Schreibens passiert, für jenen Zustand entgrenzter und doch hoch bewusster Wahrnehmung, in dem das flüchtige „Ich“ vollends die Kontur verliert und der Wahrnehmende nur noch Sensorium ist. Ein Sensorium für Blickscharten und Rhythmen, für Irritationen der Haut und Sprachschwingungen aller Art. War das veränderte Sehen und Hören während des Unfalls nicht genau das, was ich gesucht hatte? Eine gleichsam meditative Art von Aufmerksamkeit, eine konzentrierte Euphorie? Aber was war mit dem katastrophischen Einsatz, ließ er sich verallgemeinern, verdankte sich das poetische Sehen dem Schock? Und wo blieb in diesem Bild die Sprache, der Rhythmus der Sätze, der doch jedes Schreiben eines Gedichts bis in die kleinste Körperregung bestimmt?
Solange ich zurückdenken kann, haben mich Zugfahrten fasziniert. Damit meine ich weniger ein Interesse an den technischen Möglichkeiten, sondern die Lust an der entspannten Bewegung, jene Ruhe des bewussten und doch ausgelieferten Dahingleitens, die nur die Eisenbahn ermöglicht. Sich bewegen und schauen können, die vorbeihuschenden Dinge fixieren, das Auf und Ab der Überlandleitungen, dann wieder die Konturen der Landschaft dahinter. Und all das ist in und gegen die Fahrtrichtung möglich, von den zahllosen Abstufungen ganz zu schweigen. „Optische Amalgamierungen“ – diese Formulierung fällt mir jedes Mal ein, wenn ich über das Bahnfahren nachdenke. Sie entstammt einer Erzählung von Nabokov, die ebenfalls von einer Reise im Zug handelt. Genauer ist es eine Fahrt im sogenannten „Nord-Express“, der zu Beginn des letzten Jahrhunderts von St. Petersburg nach Biarritz führte. Nabokov schildert diese Fahrt als eine Erinnerungsreise, in der sich die Sichtweise des Kindes, der Blick des reifen Erzählers und die Bilder der vorbeiziehenden Landschaft auf wundersame Weise durchdringen. Und so wie die Spurweite an der russisch-deutschen Grenze von behäbigen 1m 524 mm auf das gewohnte europäische Maß von 1m 435 wechselt, ändert sich auch die Wahrnehmung des kleinen Jungen, von dem Nabokov erzählt. Nur verläuft die Bewegung in umgekehrter Richtung: Schon beim flüchtigen Schauen aus dem Fenster beginnen sich die vertrauten Zusammenhänge aufzulösen. Eine Stadt mit all ihren Sträßchen, Ladenschildern und Fassaden kann dem Schauenden im Wageninneren so unvermutet zur Spielzeugwelt werden. Erst recht aber nachts stößt der Blick aus dem Halbdunkel des Abteils auf ein Schauspiel von Gegenständen und Teilen von Gegenständen, von kleinen Schattenstücken, die sich hin und her bewegen, ohne zu einem Ziel zu gelangen. „Es war schwer, eine Beziehung zwischen diesen zögernden Annäherungen, dieser verkappten Heimlichkeit und der ungestüm vorüberrauschenden Nacht draußen herzustellen“, schreibt Nabokov.
Die Fensterscheibe verwandelt sich in eine Versuchsfläche, in deren strenger Umgrenzung das Wahrgenommene plötzlich aus seinen Kontexten des Gebrauchs heraustritt und für sich steht. Und das hat zunächst einmal gar nichts mit Willkür zu tun, sondern verdankt sich nur der Beschränkung und dem genauen Blick auf das, was hinter (fast möchte ich sagen: auf) der Glasfläche erscheint. Mit dieser Art von Konzentration setzt auch das poetische Sehen ein, hier gibt es zwar keine Glasscheibe, dafür aber den konkreten Sichtausschnitt. Es ist ein Sich-Öffnen für die Gegenwart des Bildes, ein Aufgehen in den Sinneswahrnehmungen, vielleicht sogar im Wahrgenommenen selbst (hinter dem poetischen Sehen schimmert der Traum eines Seins bei den Dingen in völliger Klarheit, ein Traum ...). Disparate Details können so aufleuchten, die Bezeichnungen werden flüssig, die Pupillen ganz klein.
Doch je länger das Sehen dauert, desto deutlicher treten andere Beziehungen hervor, Rhythmen, Querlinien, die auf das gedankliche Moment hindeuten. Diese Konstellationen zeigen sich von selbst, man zwingt den Wahrnehmungen keine neue Deutung auf, ergreift nicht Besitz von ihnen. Bisweilen mögen sie jenen gegensätzlichen Verbindungen, jener „Welt von besondern geheimen Affinitäten“ gleichen, die Walter Benjamin in seinen Materialien zum Passagenwerk beschworen hat. Benjamin entwickelt diese Vorstellung zunächst aus Traum- und Rauschzuständen. Doch in seinem Innersten zielt er auf eine ganzheitliche Erfahrung von Welt, zu der Haschisch oder Opium allenfalls eine „Vorschule“ bilden können.
Meditativ ist dieser Akt des Schauens, weil jedes Wollen darin ausgeschaltet ist. Ein „Ich“ im Sinne einer festen Instanz im Hintergrund gibt es gar nicht mehr, kein Subjekt ist hier erhaschbar, sondern nur ein Kollektor von sinnlichen Eindrücken. Gunnar Ekelöf schreibt einmal von einem „denkenden Gefühlsleib“, der dem Gedicht innewohnt, ichlos, nackt und ohne Form. Ein Medium gewissermaßen, das es umgekehrt auch nicht mit so etwas wie festen „Dingen“ oder „Gegenständen“ zu tun hat, sondern mit dem Vorgang der Wahrnehmung. Das Gedicht speist sich aus solchen Vorstellungen, aus Bildern, Bewegungen, Rhythmen, gespeichert in der Erinnerung. Einer Erinnerung, die im ganzen Körper sitzt.
Bin ich nun endlich am Schreibtisch angelangt, dort, wo die Worte aus den Fasern aufs Papier wandern und vom Papier in den Computer? Bin ich nun endlich beim Gedicht? In Wahrheit bin ich von Anfang an mitten im Gedicht gewesen. Nichts ist hier zweitrangig, nichts bloßer Stoff, sondern all das gehört elementar zu dem Prozess, der das Gedicht zweifellos ist: die Weitung des Sensoriums, das genaue Sehen, das Einsickern der Wahrnehmungen in den Körper, das Reifen, Vergehen der Zeit, dann das Schreiben, der eigentliche Schreibvorgang (der sich niemals planen lässt, der wie ein Anfall kommt, ruckartig ... ). Die Ruhe, der genaue Blick, nach innen nun: konzentrierte Euphorie. Eine Bewegung des Wahrnehmens in eine Sprachbewegung übersetzen, besser: einen Rhythmus des Wahrnehmens in einen Sprachrhythmus – vielleicht kann man so skizzieren, was während des Schreibens passiert. Wobei das willentliche Moment daran ebenso groß oder klein ist wie das nicht willentliche. Das Sehen übersetzt sich zu einem guten Teil selbst in Sprache, über den Körper, über einen geheimen Verwandlungsmechanismus, der sich für jedes Gedicht neu justiert. Und erst in diesem Sprachrhythmus ist der Rhythmus des Wahrnehmens recht eigentlich da, erst so hat er eine Form gefunden. Es ist seine Form, die ihm einzig mögliche.
Autobahnschilder, Tanksäulen – die Bilder sind immer noch deutlich. Ich erinnere mich an die Farbe des Teers und an die Öldosen, an die Halme neben dem Parkplatz und an die Rillen, die sich mit Wasser gefüllt hatten. Irgendwo verlief eine Bahnlinie, bilde ich mir ein. Ich habe Schienen vor Augen, durchhängende Drähte.